(ERC) MaDAf: A History of Madness in Africa: Governing Mental Disorder during Decolonisation (1940s – 1970s)

Dynamiken und Erfahrungen der Globalisierung

Projektleitung: Romain Tiquet (CMB)
Fördermittelgeber: ERC Starting Grant
Projektpartner: Institut des Mondes Africains (IMAF), CMB
Laufzeit: 2020 – 2025

Das Thema Wahnsinn auf dem afrikanischen Kontinent, das besonders von der Soziologie oder der Anthropologie analysiert wird, stellt bislang einen blinden Fleck in der historischen Forschung dar.
    
Dieses Forschungsprojekt schafft die Grundlage für die erste vergleichende und vernetzte Studie zum Thema Wahnsinn in mehreren afrikanischen Ländern. Der Vergleich ermöglicht es, über einen langen Zeitraum und in Gebieten des ehemaligen französischen und britischen Kolonialreichs die Vielfalt der lokalen Situationen, die Verbindungen und die Zirkulation von Diskursen, Praktiken und Akteuren zu untersuchen.

Wahnsinn ist in erster Linie als Kategorie zu verstehen, auf die Überzeugungen und (klinische, politische usw.) Kenntnisse projiziert werden und über die soziale Kontrolle ausgeübt wird. Im Mittelpunkt des Projektes steht es, den Prozess der Etikettierung und Kennzeichnung von Wahnsinn zu betrachten. Im weiteren Sinne soll es dazu anregen, die vielfältigen Vorstellungen von Wahnsinn miteinander in Beziehung zu setzen. Das heißt, diejenigen Vorstellungen, die von den (post-)kolonialen Behörden in einer Dynamik der Abwertung konstruiert wurden, und die vielfältigen Vorstellungen der afrikanischen Gesellschaften, die zumeist Akzeptanz und einen kollektiven Umgang mit dem Wahnsinn angestreben, welcher als heiliges, mystisches oder magisches Phänomen verstanden wird.

Das Projekt

Dieses Projekt möchte den begrenzten Rahmen der psychiatrischen Einrichtungen verlassen und die Vielzahl der Orte hinterfragen, an denen psychische Störungen auftreten (Straße, Gericht, Gefängnis, Polizeistation, Dorf usw.). Es hinterfragt das Gewöhnliche des Wahnsinns durch eine Studie auf "Quellenniveau" und "Bodenniveau", indem es die Analyse auf mehreren Ebenen, von lokal bis transnational, einbezieht, um die Kluft zwischen Diskursen, Praktiken und individuellen Erfahrungen mit dem Wahnsinn zu erfassen. Ich mobilisiere eine Vielzahl von schriftlichen Quellen (Verwaltungsarchive, Presse), von denen einige im afrikanischen Kontext noch nie erforscht wurden (psychiatrische Archive, Patientenakten), aber auch ikonografische und mündliche Quellen.

Das Projekt ist in drei komplementäre Forschungsbereiche gegliedert. Der erste befasst sich vergleichend und über einen längeren Zeitraum mit den unterschiedlichen Darstellungen, der Entstehung und der Verwendung verschiedener Definitionen von psychischen Störungen zur Charakterisierung, Identifizierung und Kontrolle der Bevölkerung während der Kolonial- und Postkolonialzeit. Dieses Projekt befasst sich sowohl mit den von der Politik und den Gesellschaften produzierten Diskursen und Praktiken über den Wahnsinn in Afrika, fragt aber auch danach, was der Wahnsinn über die Politik und die Gesellschaft auf dem Kontinent aussagt. In einem zweiten Forschungsbereich interessiere ich mich für die verschiedenen Formen des Umgangs mit Wahnsinn, sei es im Rahmen psychiatrischer Kliniken und asylartiger Einsperrung oder im Rahmen des repressiven und polizeilichen Umgangs mit geistiger Unordnung durch verschiedene Behörden. In einem dritten Forschungsbereich schließlich nimmt dieses Projekt einen Maßstabwechsel vor und konzentriert sich auf die Individuen, auf die "Verrückten", die nicht als bloße Objekte eines politischen oder medizinischen Wissens betrachtet werden, sondern als Subjekte und Akteure ihrer eigenen Geschichten.
Die Geschichte des Wahnsinns auf dem afrikanischen Kontinent ermöglicht eine doppelte Dezentrierung mit vielfältigen heuristischen Potenzialen. Erstens ermöglicht eine Geschichte des Wahnsinns von Westafrika aus, die Geschichte des Staates und der westafrikanischen Gesellschaften während der kolonialen und postkolonialen Zeit von den Rändern her zu beleuchten. Zweitens ermöglicht die Untersuchung psychischer Störungen in Westafrika außerhalb ihres streng psychiatrischen Aspekts eine erneuerte Analyse der Geschichte des Wahnsinns und fügt sie in eine globalere Perspektive ein.

 

Das MaDAf-Forschungsteam besteht aus Dr. Romain Tiquet, Forschungsleiter (CNRS- CMB Berlin); drei Post-Doktoranten: Dr. Gina Aït Mehdi (CNRS – IMAF Marseille), Dr. Camille Evrard (CNRS – IMAF Marseille) und Dr. Paul Marquis (CNRS – IMAF Marseille); Und assoziierten Forschern: Dr. Papa Mamadou Diagne (Institut Pasteur), MA. Cecilia Dracchio (Sapienza Universität Rome), Dr. Mélanie Henry (EHESS-IIAC), Dr. Katie Kilroy-Marac (University of Toronto), Dr. Olivia Legrip Randriambelo (LARHRA, Lyon), MA. Frederic Macia (Lyon II), MA. Gaia Manetti (Université de Genève / Pisa Universität), Dr. Nana Quarshie (University of Yale), Dr. Misha Suter (IHEID Genève) und MA. Annigje Van Dijk (KU Leuven). Nancy Rose Hunt (University of Florida) ist die Ethikberaterin des Projekts.

Dr. Lucile Debras (Berlin) ist die finanzielle Projektleiterin. Dieses transnationale Forschungsprojekt wird mit Mitteln des Europäischen Forschungsrates ermöglicht (StG- 852448-MaDAf).